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Nackter Berg

Eine Foto-Story von Tomaso Clavarino


»Ich lebe zwischen Turin und Mai­land, und wenn ich nicht ge­rade arbeite oder auf Reisen bin, ver­bringe ich meine Zeit in den Bergen, am liebsten in den Alpen. Seit vielen Jahren beob­achte ich die Pro­bleme der Natur wie auch der Men­schen. Bei meinen Wan­derun­gen habe ich gesehen, wie immer mehr Ski­gebiete schließen und die Infra­struk­tur ver­fällt, da auf­grund des Klima­wandels der Schnee aus­bleibt. Das Thema hat mich interes­siert, und so habe ich mich mit der Kamera auf Spuren­suche begeben.«



»Diese alten und ver­lasse­nen Schnee­kano­nen habe ich in Sella Chianzutan im Friaul foto­gra­fiert. Es liegt so niedrig, dass selbst Kunst­schnee keine Alter­native mehr ist.«


Der BUND hat 2015 berechnet, wie viel Strom man braucht, um in den Alpen 70000 Hektar künst­lich zu be­schneien – etwa 2100 Giga­watt­stun­den. Damit können mehr als 500000 Haus­halte ein Jahr lang ver­sorgt werden.

Verlassene Lift­station in Sella Chianzutan im Friaul


Renzo Pinard war Bürger­meister der kleinen Gemeinde Chiomonte im Piemont. Sie liegt 750 Meter über dem Meeres­spiegel. Ganz in der Nähe fanden die Olym­pischen Winter­spiele 2006 statt. Ihm gehört ein Hotel in Pian del Frais oben am Berg, und er meint: »Wir müssen hier einen Weg finden, nicht nur im Winter attrak­tiv zu sein, und ver­suchen, im Sommer mehr Touristen anzu­ziehen.«


Friedhof der Sessel­lifte in Recoaro Mille im Veneto


»In den 1960er Jahren begann der große Auf­stieg des Ski­touris­mus in den Alpen, und Italien war eines der Zentren des Booms. Der Ausbau der Infra­struk­tur, Wachs­tum und stei­gende Touris­ten­zahlen galten lange Zeit als einzige Mög­lich­keit, die Entvöl­kerung der Alpen zu bremsen und die­sem fragilen Öko­system eine Zukunft zu geben.«



Mauro Berera ist einer der letzten Bewohner von San Giacomo Filippo in der Lombardei. Ihm gehört der Ski­verleih, aber durch die Schlie­ßung der Pisten hat er keine Kunden mehr. »Ich werde diesen Ort niemals ver­lassen. Sie haben ein kleines Juwel zerstört, aber ich gebe die Hoff­nung nicht auf, dass San Giacomo wieder­auf­ersteht. Wovon ich jetzt lebe? An den Wochen­enden verleihe ich Schlitten.«


Im Geschäft von Mauro Berera


»Eine ehemalige Skipiste, wie ein Wund­mal in der Land­schaft an der Punta dell’Aquila, einem Berg in der Nähe von Turin. Bereits 1994 wurde hier der Winter­sport ein­ge­stellt. Ist die dünne Gras­narbe einmal groß­flächig ver­letzt, rege­ne­riert sie sich im fragi­len alpinen Öko­system nur schwer. Häufig bleiben solche ero­dierten schutt­halden­artigen Risse über Jahr­zehnte bestehen.«


Bauruine in Pian del Frais im Piemont

Haltestelle der Seil­bahn in Recoaro Mille im Veneto. Das Ski­gebiet hier wurde 2017 geschlossen.


»Giuseppe Versino war Betreiber eines Pisten­gebiets, das vor zwanzig Jahren schließen musste, und betreibt jetzt mit seiner Familie die Pizzeria Aquila in Alpe Colom­bino. Sie ist die einzige Attrak­tion am Ort. Obwohl Turin, die viert­größte Stadt Italiens, nicht weit ent­fernt ist, sind die Besu­cher­zahlen nicht mehr an­nähernd so hoch wie zu Zeiten des Ski­auf­schwungs im ver­gange­nen Jahrhundert.«



Seine Tochter Arianna kann sich nicht vor­stellen, irgendwo anders zu leben. Obwohl sie es schwer haben, da nur noch wenige Touristen kommen, seit vor rund zwanzig Jahren das Ski­gebiet geschlos­sen wurde. »Meine Eltern erzählen mir immer noch von früher, wie viele Leute hier waren, und ich sehe es auf den Bildern. Ich war da noch gar nicht auf der Welt.«


Tisch in der Pizzeria


»Nun – mehr als ein halbes Jahr­hundert nach dem Boom – lassen sich die Folgen dieses rück­sichts­losen Wachs­tums betrachten. Denn Klima­wandel, Fehl­inves­ti­tionen und der Rück­gang der Ski­fahrer­zahlen haben in den tiefer­gele­genen Orten der italie­nischen Alpen Dutzende Fried­höfe voller Stahl­kabel, Beton, Park­plätze, verlas­sener Hotels und abge­holzter Pisten hinter­lassen. Allein in Italien gibt es etwa 200 ver­las­sene Ski­gebiete. Und die Zahl wird steigen. Nach jüngsten Studien wird es für Gebiete ohne künst­lichen Schnee unter­halb einer bestimm­ten Höhe keine Zukunft mehr geben.«



Michele Comi ist Berg­führer. In seiner Gemeinde Caspoggio wurde 2013 der Ski­betrieb wegen Schnee­mangel einge­stellt. Bald soll das Ski­gebiet aller­dings nach dem Willen der ört­lichen Regierung mit großem finan­ziellen Aufwand und tech­nischem Schnee wieder eröff­net werden. Comi sieht das kri­tisch: »Es macht meiner Meinung nach keinen Sinn, auf 1000 Metern ein Ski­gebiet zu betrei­ben. Es gibt auf dieser Höhe immer weniger Schnee, und Kunst­schnee ist für mich keine Lösung.«



»Wir müssen uns neue Formen der Entwick­lung über­legen und sanften Tourismus, wie Berg­wandern, Rad­fahren und Ski­touren fördern.«


Der italienische Fotograf Tomaso Clavarino hat bereits mehrere Lang­zeit­projekte im SPIEGEL ver­öffent­licht. Schon als Kind war er immer in den Bergen, sommers wie winters, am liebsten würde er dort wohnen: »Ich glaube, dass sich unsere Art und Weise, Win­ter­sport zu betrei­ben, radikal ändern wird. Genauso wie sich das Leben der Menschen in den Bergen im Wandel befindet.«

Team


Autor Tomaso Clavarino

Gestaltung Lorenz Kiefer

Programmierung Lorenz Kiefer, Chris Kurt

Dokumentation Nina Ulrich

Schlussredaktion Gartred Alfeis

Redaktion Elisabeth Kolb, Jens Radü