Es ist kurz vor fünf und irgendwer rüttelt an meinem Fuß. „Aufstehen, in einer Stunde sind wir bei den Booten“, flüstert Beppe. Er ist der Erste Offizier auf der „Phoenix“ und macht den Weckdienst. In den Kojen neben mir reiben sich Daniele und Roberto vom Roten Kreuz den Schlaf aus den Augen. Noch eine Stunde.

Der Funkspruch kam am frühen Morgen aus Rom, vom Maritime Rescue Coordination Centre. Die haben dort alle Rettungsschiffe auf dem Schirm und entscheiden, wer sich um welchen Notruf kümmert. Gonzalo, unser Captain, steuert auf die Zwölf-Meilen-Zone vor der libyschen Küste zu – um kurz vor acht sehen wir schließlich die ersten Boote am Horizont. Ich lasse meine 360°-Kamera laufen. Und es geht los:

Es war nicht nur ein Gummiboot heute. Es waren vier. Die Schlepper sprayen Nummern auf das Heck und schicken die Boote zusammen los. Einer der Flüchtlinge bekommt meistens ein Satellitentelefon, die Nummer vom MRCC ist eingespeichert.

450 Menschen konnten wir auf die „Phoenix“ bringen. Drei Flüchtlinge waren schon tot. Gonzalo erklärt mir, wie sie wahrscheinlich gestorben sind:

Wasser. Zuerst gibt es Wasser für alle. Dann Essen. Und dann, spätestens nach einer Stunde, schlafen alle Flüchtlinge, die wir retten konnten. Bei einigen habe ich das Gefühl, der Druck von Monaten und Jahren der Flucht fällt von ihnen ab.

Als sie am nächsten Tag wieder aufwachen, frage ich sie, was sie erlebt haben, warum sie aus ihrer Heimat geflohen sind – und was sie sich von Europa erhoffen:

Samson Lawrence, 24, aus Nigeria: „Ich wurde von Boko Haram angezündet. Sie bekämpfen uns Christen. Ich will nach Europa, weil es in Nigeria keine richtige Behandlung für meine Wunden gibt. Auf dem Meer im Gummiboot stieg das Wasser immer höher, alle waren in Panik. Noch eine Stunde und wir wären ertrunken.“

Faith, 20, aus Nigeria: „Boko Haram kam und tötete meinen Vater. Sie terrorisieren uns jeden Tag. Also habe ich beschlossen zu fliehen. Wir waren eine Gruppe von 26 Menschen, drei Monate haben wir für den Weg nach Libyen gebraucht. Es ging durch die Wüste, wir hatten zu wenig Wasser. Sechs aus unserer Gruppe sind auf dem Weg gestorben.“

Fradhin Ali, 20, aus dem Sudan: „Wir sind nicht frei im Sudan. Die Regierung unterdrückt, man darf nicht seine Meinung sagen, sonst sperren sie dich ein. Also ging ich nach Libyen. Dort gibt es keine Polizei, keine Regierung. Jeder, der eine Waffe hat, ist die Regierung. Ich wurde versklavt, musste auf Baustellen arbeiten. Schließlich konnte ich weglaufen. Für den Platz im Gummiboot habe ich 1000 Dollar gezahlt.“

Otins Aigabe, 22, aus Nigeria: „Als wir endlich Libyen erreicht hatten, kamen plötzlich Männer mit Waffen und haben mich entführt. Sie schlugen mich, stachen mich mehrere Male mit einem Messer. Schwarze Menschen sind in ihren Augen keine Menschen. Von der Überfahrt im Gummiboot weiß ich nicht mehr viel – es war so heiß, dass ich ohnmächtig geworden bin.“

Anyasodar Um Cukusu, 42, aus Nigeria: „Ich war im Bergbau tätig. Dann kam Boko Haram und bombardierte das ganze Gebiet. Ich habe alles verloren. Zwei meiner Töchter starben im Bombenhagel. Wir mussten fliehen. In Libyen hat mir die Polizei in den Rücken geschossen. Wovon ich träume? Meine Kinder sollen eine gute Ausbildung bekommen. Wenn ich es nach Deutschland schaffe, will ich Geld verdienen und es ihnen schicken.“

Jane aus Nigeria: „Ich bin mit meinen drei Kindern vor Boko Haram geflohen. Es ist so schwer, mit ihnen auf eine so gefährliche Reise zu gehen. Bevor wir in die Schlauchboote einstiegen, hatte ich natürlich große Angst. Aber unser Leben ist in Gottes Hand. Wenn er will, dass wir überleben, überleben wir.“

Zwei Tage später bekommen wir den nächsten Notruf: Wieder mehrere Boote, wieder muss es schnell gehen. Mit einer Drohne lässt Gonzalo, der Captain, das Gebiet absuchen: Wohin sind die Boote abgetrieben, seit sie den Funkspruch absetzen konnten?

Wir finden sie schließlich. Wieder einmal sind die Schlauchboote in einem erbärmlichen Zustand. Das hat System, erklärt mir Gonzalo:

Mehr als 3600 Menschen sind in diesem Jahr schon im Mittelmeer umgekommen. Deutlich mehr als 2015. Und das Jahr ist noch nicht vorüber. Es liegt auch daran, dass die Schlepper nun immer mehr Menschen auf die Boote schicken. Und auch die gefährlichen, langen Routen von Ägypten aus werden immer häufiger befahren:

An Tag sieben unserer Mission zieht ein Unwetter herauf, die Wellen schütteln das Schiff. Die Schlepper warten ab. Wir auch. Vier Tage lang kein Notruf, die Drohnen finden auch nichts. Wir stoppen die Maschinen, angeln Thunfisch, 40 Meilen vor der libyschen Küste. Erst am fünften Tag wirft Gonzalo wieder die Maschinen an.

Acht Boote, mehr als 400 Flüchtlinge sind es diesmal, wieder vor allem aus Afrika. Sie fragen mich: „Wann sind wir in Europa?“ Als ich ihnen sage, dass das noch zwei Tage dauern wird, sind sie geschockt: „Aber die Schlepper haben gesagt, die Fahrt dauert nur zehn Stunden?“

Vielen wird erst jetzt bewusst, dass ihre Schlepper sie nicht nach Europa schicken wollten.

Sondern in den Tod.

Impressum

Kamera, Fotos, Schnitt Christian Werner

Animation Lorenz Kiefer

Grafik Anna-Lena Kornfeld

Programmierung Tobias Hellwig

Programmierung 360-Grad-Videos Kai Hagelstein

Redaktion Jens Radü

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