Paninnguaq, die junge Frau, die als Mädchen so müde vom Leben war, dass sie in zwei Grad kaltes Wasser sprang, ist heute 25 Jahre alt, alleinerziehende Mutter und trockene Alkoholikerin. Sie lebt in Nuuk, der Hauptstadt Grönlands. Mit 16.000 Einwohnern die größte Stadt der riesigen Insel, dort im nördlichsten Winkel der Erde. Grönland ist nicht für viel bekannt. Schlittenhunde. Das ewige Eis. Eine alte Kultur. Und für eine der höchsten Selbstmordraten der Welt. Schlimmer noch: Es sind die jungen Grönländer, die sich selbst töten, sie sind dann gerade einmal zwischen 14 und 29 Jahren alt. Warum verzweifeln sie am eigenen Leben?
I. Generation Lebensmüde
Paninnguaq lebt. Andere können nicht gerettet werden: Fast einen Selbstmord pro Woche gibt es in Grönland, durchschnittlich 50 Tote im Jahr – und das bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 56.000.
Das ist so, als würde sich in Deutschland ganz Lüneburg umbringen. Jedes Jahr.
Die Selbstmordrate ist seit drei Generationen so hoch. Warum? Sieht man sich auf der Karte an, an welchen Orten die meisten Selbstmorde registriert werden, zeigt sich – es ist kein Hauptstadtproblem.
Suizidrate in Grönland
Warum sind es die Jungen, die sich umbringen? Und warum glauben manche Grönländer, Dänemark sei schuld? Ist der Tod aufzuhalten?
Die Suche nach Antworten ist beschwerlich in einem Land, in dem Schlittenhunde in manchen Gegenden die einzige Möglichkeit sind, um zu reisen. Und einfache Erklärungen wird es nicht geben. Die Suche führt zu einer jungen Frau, deren Dorf ausstirbt, zu einer Mitarbeiterin des Gesundheitsministeriums, die mit Broschüren gegen Selbstmorde kämpft. Zu einem Rapper, der nicht mehr zählen kann, wie viele seiner Freunde sich umgebracht haben. Und zurück zu Paninnguaq, die nicht mehr warten will.
Am Anfang steht ein Gespräch mit Poul Petersen. Er ist Polizist. Eigentlich wäre es nicht seine Aufgabe, sich um Selbstmörder zu kümmern. Dann aber klingelt sein Telefon:
II. Notruf aus einer anderen Welt
Die Hauptstadt Nuuk, das Theater, die Hotels, das thailändische Restaurant, das moderne Europa, das ist nicht typisch für uns, sagen Grönländer. Wer irgendwo im Land den Notruf wählt, landet trotzdem dort, in der Polizeistation, mitten im Zentrum, gleich bei den markanten Sozialbauten.
Sie sehen aus wie Dominosteine, die bald kippen.
Manche, die den Notruf wählen, rufen aus einer Welt an, in der keine Hochhäuser stehen, in der niemand Autos braucht, weil die Straßen dafür fehlen. Sie leben dort, wo es viele Alte gibt und wenig Junge, keine Polizisten oder Ärzte, die Poul Petersen im Notfall benachrichtigen kann. Dann hält ein Hilfspolizist die Stellung, bis ausgebildete Kollegen mit dem Hubschrauber eingeflogen kommen.
Nur wenige hielten in seinem Job durch, sagt Poul Petersen. Zu klein sei die Gemeinschaft, zu viele kennen sich.
Wer sich umbringt, hinterlässt kaum jemanden, der genügend Abstand hat, um Trauernden zu helfen.
Und es sind vor allem die selbstmordgefährdet, deren Angehörige oder Freunde Suizid begangen haben. In Grönland trifft das fast auf jeden Zweiten zu. So eng sind die Gemeinschaften – und so entlegen.
Wie ist es, dort, am geografischen Rand der Gesellschaft aufzuwachsen? Aviaq ist 19 Jahre alt und hat die meiste Zeit ihres Lebens in einem Ort verbracht, in dem viele ihrer Nachbarn auch Verwandte sind. Im Sommer führt ein Boot zu ihr, zwei Stunden durch dichten Nebel hindurch, an Eisbergen vorbei – bis die bunten Holzhäuschen im Grau auftauchen. Ein Besuch:
III. Ein Dorf verschwindet
Manchmal scrollt Aviaq durch die Facebook-Fotos ihrer Freunde, sieht Parties und Cliquen. Von sich postet sie Selfies. Sie möchte Stewardess werden. Um die Welt zu bereisen? „Um jeden Tag neue Leute kennenzulernen.“
Deshalb musste sie ihr Dorf verlassen. Sprachschule in Dänemark, Gymnasium in Grönland, dann die Ausbildung. Aviaqs Biografie ist typisch für grönländische Jugendliche: Sie können nicht in ihrer Heimat bleiben.
Das Land verliert Einwohner.
Offiziell ist Grönland seit 2009 selbstverwaltet und bis auf wenige Bereiche nur formal der dänischen Königin unterstellt. Tatsächlich aber bleibt die Oberhoheit der früheren Kolonialmacht: Dänemarks Regierung bestimmt über die Außenpolitik Grönlands, über Verteidigungsfragen. Grönland ist auf Unterstützungszahlungen angewiesen, erhält aber nur 2 von 179 Plätzen im dänischen Parlament. Zugezogene Dänen besetzen wichtige Posten in der Wirtschaft. Sie unterrichten als Lehrer, ohne die Muttersprache ihrer Schüler zu sprechen. Fachbücher kommen aus dem Ausland. Nur das mangelnde Selbstbewusstsein ist Made in Greenland.
Was hat das mit den Selbstmorden zu tun? Die Suche führt zurück nach Nuuk, ins Shoppingcenter, in dessen oberen Etagen ein Teil der Regierung seinen Sitz hat. Dort arbeitet Tina Evaldsen für das Gesundheitsministerium.
Ihre Aufgabe ist es, Strategien zu entwickeln, um Selbstmorde zu verhindern – inzwischen ist das dort so selbstverständlich wie Ernährungspläne oder Grippeschutzimpfungen für andere Regierungen.
Bis heute gibt es Grönländer, die daran glauben, dass Selbstmorde ansteckend sind.
So erklären sie sich die Häufung von Fällen, die sich wie Epidemien durch Schulklassen oder Dorfgemeinschaften ziehen. Es ist der Versuch, das Drama zu begreifen:
IV. Wer sind wir?
Mit der Modernisierung kam Sicherheit: Menschen mussten nicht mehr an einfachen Krankheiten leiden. Jäger wurden zu Angestellten. Flughäfen eröffneten und machten Reisen bequem. Die Jahrhunderte währende Isolation eines Volkes war damit schlagartig beendet. Das war Mitte des 20. Jahrhunderts.
Warum aber ist die Suizidrate dann noch heute und ausgerechnet unter Jugendlichen am höchsten?
In Grönland klicken sie sich mit High-Speed-Verbindungen durch westliche Onlinemedien, sehen die Mode Dänemarks, verfolgen die Glamour-Leben der US-Stars – blicken sie dann aus dem Fenster, sehen sie Eis, Robbenblut und Hundeschlitten.
Die Modernisierung kam schnell. Das größte Problem aber: Sie kam nicht schnell genug. Nur die wenigsten jungen Grönländer können erreichen, was für Europas Jugend Standard ist.
Die Alten verdrängen diese Zerrissenheit. Mit Alkohol und Gewalt. Grönland ist ganz weit oben in den Statistiken über Armut, häusliche Gewalt und Alkoholismus. Ein Drittel aller Mädchen wurde schon einmal sexuell missbraucht. Erwachsene geben so ihr kulturelles Trauma weiter – inzwischen an die dritte Generation.
Nur darüber reden wollen sie nicht. Isumaminik.
Misch dich nicht ein, lautet ein altes Prinzip. Lautete. Denn die junge Generation beginnt, diese Regel, diesen letzten Rest Inuit-Identität, zu brechen. So wie Henrik, 19 Jahre alt, auch er lebt in Nuuk. In seiner Freizeit ist er Rapper, und was anderes als Freizeit gibt es in seinem Leben nicht. Also nutzt er seine Stimme, um über die Probleme seiner Generation zu reden.
Ich will wie Eminem sein, sagt Henrik:
V. Einmischen
Manchmal, sagt Henrik, telefoniere er mit seinem Vater, der auf der anderen Seite der Insel lebt, im armen Osten. Dann sitzt er in seinem Zimmer, dort in Block 10, wo er mit seiner Mutter, den jüngeren Schwestern und dem zweiten Stiefvater wohnt.
Ach, sein Vater hat doch seit Monaten nicht angerufen, sagt Henriks Mutter.
Henrik erzählt gern von dem Praktikum, das er in einem Restaurant gemacht hat. Ja, Koch möchte er werden. Wann? Irgendwann. Seine Tage vertrödelt Henrik, trifft rauchende Mädchen und seinen Freund Minik, mit dem er sich die selbstgebastelte Tattoo-Maschine teilt.
Vor allem Jungs werden bis heute nach traditionellen Werten erzogen: als müssten sie noch immer für die Gemeinschaft ums Überleben kämpfen, unerschrocken jagen, töten. Dabei sitzen sie als Erwachsene – wenn überhaupt – in Büros. Sie lernen nicht, moderne Probleme zu lösen. Erst recht nicht, wenn sie als Kind in einem sozialen Desaster aufwachsen.
Wenn ich seine Lieder höre, muss ich manchmal weinen, sagt Henriks Mutter. Er hat es so schwer.
Das trifft natürlich längst nicht auf alle zu. Es gibt eine moderne Mittelschicht, junge Menschen, die mit Macbooks in der Universität sitzen. Die aktuelle Bildungsministerin ist direkt nach ihrem Abschluss in den Wahlkampf gezogen, so gefragt sind Fachkräfte.
Aber Inuit waren einst Menschen, die auf wundersame Weise dort überlebten, wo menschliches Leben eigentlich unmöglich war. Sie waren robust, besonders. Heute, so sagen es die Alten, sind sie Bettler, die Almosen von den dänischen Besatzern annehmen. Weil niemand weiß, wie das Land ohne diese Sozialhilfe leben soll.
VI. Inuugit, lebe!
Es ist Herbst, als sich etwas ändert. Die Tage sind längst wieder auf Stunden zusammengeschrumpft, der erste Schnee fällt. Paninnguaq bekommt einen Anruf, einer der großen Fernsehsender des Landes möchte über sie berichten. Dann die Anfrage eines Politikers: Er möchte sie treffen, es ist Wahlkampf. Paninnguaq reist zu internationalen Konferenzen nach Kanada und Stockholm. Weil ihr Fremde auf Facebook Nachrichten schicken.
„Danke“, schreiben sie, oder „Das ist so wichtig“.
Paninnguaq trank, litt an einer Essstörung, prügelte sich, flog von der Schule und beinahe aus ihrem Leben – und kam dadurch auf eine Idee, die einfacher kaum sein könnte: